Ein Leitfaden des ICZ-Rabbinats zum Thema Organspende im Lichte der bevorstehenden Abstimmung

28. April 2022 Michael

 

Am 15. Mai 2022 stimmen die Schweizer Stimmberechtigten über die Änderung des Transplantationsgesetzes ab. Bisher galt: Wer seine Organe spenden möchte, muss dies zu Lebzeiten festhalten. Neu soll gelten: Wer seine Organe nicht spenden möchte, muss dies zu Lebzeiten festhalten (Widerspruchslösung). Hat eine Person nicht widersprochen, wird davon ausgegangen, dass sie ihre Organe spenden möchte. Gleichwohl müssen in diesem Fall die Angehörigen bzw. eine vorher bestimmte Vertrauensperson einbezogen werden. Sie können eine Organspende ablehnen, wenn sie wissen oder vermuten, dass die betroffene Person sich dagegen entschieden hätte. Hat die Person ihren Willen nicht festgehalten und sind keine Angehörigen erreichbar, dürfen keine Organe entnommen werden (Erweiterte Widerspruchslösung).

 

Viele unserer Mitglieder fragen sich, wie das Thema Organspende allgemein aus jüdischer Sicht zu bewerten ist und welche Konsequenzen ein JA zur Gesetzesänderung zur Folge hätte.

 

Grundsätzlich befürwortet und fördert das Judentum die Organspende, um Leben zu retten im Sinne des zentralen Wertes der Lebenserhaltung „Pikuach Nefesch“. Dies gilt sicherlich für die freiwillige Lebendspende (= Spende eines Organs oder Gewebe einer noch lebenden Person) als ein grosser Akt der Nächstenliebe. Bezüglich einer Organspende nach dem Tod scheiden sich die Meinungen der rabbinischen Autoritäten.

 

Wann tritt der Tod ein?

Voraussetzung für eine Organentnahme ist, dass der Patient medizinisch gesehen tot ist. Dies bedeutet, dass er seine biologische Funktion als Mensch unumkehrbar nicht mehr autonom wahrnehmen kann –dies bezeichnet man als Hirntod. Genauer betrachtet ist es die Funktion des Hirns und des Hirnstamms, welche lebenswichtige Funktionen wie die Atmung steuern, welche irreversibel geschädigt ist und nicht mehr funktioniert. Dies führt im Fall eines nicht beatmeten Patienten zum Tod durch Atemstillstand und dadurch zum Sistieren der Herzfunktion. Beatmete Patienten haben aber weiterhin einen funktionierenden Kreislauf, wodurch andere Organe des Körpers mit Sauerstoff versorgt werden und dadurch in ihrer isolierten Funktion erhalten bleiben. Diese Organe (inkl. das Herz selbst) können dann im Rahmen einer Organtransplantation ihre Funktion in einem anderen Körper weiter übernehmen und damit einem anderen Menschen ein Weiterleben ermöglichen.

 

In der halachischen Literatur wird vor allem diese Definition des Hirntods zu Recht kritisch hinterfragt. Der Talmud beschäftigt sich mit der Definition von Leben und Tod in vielerlei Bereichen und es werden klassischerweise entweder fehlende Atmung oder auch fehlende Herzaktion als klinische Zeichen des Tods definiert. Ein eigentlicher Hirntod, wie oben besprochen, kommt nicht zur Sprache. Rabbiner, die Organspenden ablehnen, tun dies nicht, weil ein Körper unversehrt bestattet werden muss. Vielmehr steht ihre Ablehnung im Zusammenhang mit der Tatsache, dass Organe in der Regel einer Person entnommen werden, die zwar hirntot ist, deren Herz aber nur mithilfe eines Beatmungsgeräts noch schlägt. Nach Ansicht dieser Rabbiner gilt der Tod als ein Zustand des vollständigen und unumkehrbaren Aussetzens der Herz-Atem-Funktion, gefolgt von einer Wartezeit von mindestens fünf Minuten, in der die Funktion nicht wiederkommt. Dies ist bei einem hirntoten Patienten am Beatmungsgerät nicht der Fall, weshalb er aus dieser halachischen Sichtweise nicht tot ist. Ein Abstellen des Geräts ist ebenfalls halachisch fragwürdig und aus Sicht der Transplantationsmedizin ist eine verzögerte Organentnahme (nach Abstellen der Beatmung)  medizinisch nicht möglich.

 

Demgegenüber steht die rabbinische Meinung, welche den unumkehrbaren Hirnstammtod als gültiges Todeskriterium anerkennt. Rabbiner Moshe David Tendler und Rabbiner Prof. Abraham Steinberg führten den halachischen Begriff der «physiologischen Enthauptung» als Hirnstammtod bei noch funktionierender Herztätigkeit als eine der talmudisch nachvollziehbare und daher akzeptierte Definition des Todes ein.

 

Auch wenn bis heute kein endgültiger Konsens der halachischen Autoritäten zu diesem Thema erreicht wurde, akzeptieren immer mehr orthodoxe Rabbiner und auch das israelische Oberrabbinat  den Hirnstammtod mit verschiedenen Einschränkungen, sodass die Möglichkeit gegeben wird, lebensrettende Massnahmen bei schwerkranken Patienten mittels Organtransplantation durchzuführen. Es muss dabei sicher festgestellt werden, dass die eigenständige Atmung endgültig ausgesetzt hat und nie mehr zurückkehrt (siehe Nischmat Awraham, Jore Deah 339). Die meisten Mitglieder der Halachic Organ Donor Society (HODS) wie auch das ICZ-Rabbinat schliessen sich dieser Meinung an.

 

Welche weiteren Abwägungen sind aus jüdischer Sicht zu beachten?

In der Halacha gibt es strenge Regeln bezüglich des Umgangs mit Leichen. Dazu gehören (1) das Verbot, eine Leiche zu verstümmeln oder zu entweihen (Niwul Hamet), (2) das Verbot, Nutzen oder Profit aus einer Leiche zu ziehen (Hana’at Hamet), (3) das Gebot, Verstorbene möglichst rasch zu beerdigen (Halanat Hamet) sowie (4) das Gebot, den Körper im Ganzen zu beerdigen. Im Falle einer Lebensrettung durch eine Organspende dürfen aber diese Vorbehalte zugunsten von Pikuach Nefesch ausser Kraft gesetzt werden. Dies jedoch unter folgenden Voraussetzungen: Erstens muss es eine konkrete Person geben, die mit genau diesem Organ gerettet werden kann. Zweitens muss die medizinische Wahrscheinlichkeit, dass diese Person durch den Eingriff gerettet werden kann, hoch sein. Drittens muss die spendende Person oder stellvertretend die nächsten Angehörigen ausdrücklich eingewilligt haben. Ausserdem gilt während der Organentnahme zu beachten, dass sämtliche für die Transplantation nicht verwendeten Leichenteile für die Beerdigung erhalten bleiben sowie, dass nach der Organentnahme die obenstehenden Vorschriften zum Umgang mit Leichen wieder gelten und möglichst bald die Tahara sowie die Beerdigung im gewohnten Rahmen durchgeführt werden kann.

 

Die Wichtigkeit, den eigenen Willen festzuhalten und die Begleitung des ICZ-Rabbinats und des ICZ-Careteams

Analog zur Stimmfreigabe des SIG und PLJS, verzichtet auch das ICZ-Rabbinat eine Abstimmungsempfehlung zum Transplantationsgesetz abzugeben. Jedoch soll hier festgehalten werden, dass aus Sicht des Rabbinats auch ein JA zur erweiterten Widerspruchslösung mit dem jüdischen Gesetz vereinbar ist. Unabhängig des Abstimmungsresultats vom 15. Mai empfiehlt das Rabbinat sehr, dass man sich frühzeitig mit der Entscheidung auseinandersetzt, inwiefern man bereit ist seine Organe zu spenden und diese Entscheidung im nationalen Organspenderegister festhält. Dieser Eintrag sorgt für Klarheit und Sicherheit, und es entlastet die Angehörigen und das Fachpersonal in einem emotional schwierigen Moment.

Das Rabbinat der ICZ hat aufgrund der Wichtigkeit dieses Themas beschlossen, ein Careteam aufzustellen, welches Familien und Angehörige im Falle einer möglichen Organtransplantation begleiten kann. Das multidisziplinäre Careteam setzt sich aus medizinischen, psychologischen und rabbinischen Fachkräften aus ICZ-Kreisen zusammen, die einerseits bei einem möglichen Transplantationsfall mit den Spitälern und Swisstransplant im Kontakt sind, um sicherzustellen, dass der gesamte Prozess im Einklang mit den jüdischen Gesetzen und Bräuchen durchgeführt wird. Zudem sollen die Angehörigen (wenn vorhanden) seelsorgerisch und religiös durch das Careteam betreut werden können. Details über Erreichbarkeit werden auf der ICZ-Webseite unter Rabbinat aufgeschaltet (weitere Informationen folgen).

 

Entscheidet man sich für eine Organspende, so ist aus jüdischer Sicht sehr wichtig, dass man im Register festhält, dass vor einer Organentnahme das ICZ-Rabbinat sowie das multidisziplinäre ICZ-Careteam kontaktiert und einbezogen wird.

 

Hat eine Person ihren Willen nicht festgehalten, werden die Angehörigen einbezogen und nach dem Willen der betroffenen Person gefragt. In einer solchen Situation wird die Entscheidung – auch nach Annahme des neuen Transplantationsgesetzes – den Angehörigen überlassen, die das letzte Wort haben. In einer Situation von Stress und Trauer, die mit plötzlicher und unerwarteter Krankheit und Tod verbunden ist, kann eine solche Entscheidung unter Umständen sehr schwierig und belastend sein, gerade wenn der Wille der betroffenen Person unklar ist. Die Familie könnte befürchten, dass eine Zustimmung zur Organspende mit der Ehre und dem Respekt, der den Toten gebührt, in Konflikt gerät (Kawod Hamet). In einem solchen Fall bieten das ICZ-Rabbinat und das Careteam halachische und seelsorgerische Unterstützung, Beratung und Orientierungshilfe an, um den Angehörigen bei einer Entscheidungsfindung zu helfen und im Falle einer Zustimmung, dass die Organtransplantation wie im obigen Abschnitt beschrieben, im Einklang mit der Halacha würdevoll durchgeführt wird.

Für die anschliessende Überführung, Tahara und Beerdigung werden in allen oben beschriebenen Fällen der Bestattungsbeauftragte, die Chewra Kadischa, die Friedhofs- und Bestattungskommission und das Rabbinat der ICZ die Verstorbenen begleiten und ihre Angehörigen betreuen.

Ich erhoffe mir, mit diesem Leitfaden einige Fragen geklärt zu haben. Bei weiteren Fragen bitte melden Sie sich ungeniert unter rav.hertig@icz.org.

 

Mit freundlichen Grüssen und mögen alle gesund bleiben,

Rabbiner Noam Hertig

 

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