Veröffentlicht vor 5 Jahren • veröffentlicht von Teresa Schäppi

Kerstin Paul – Bücher bringen Begegnungen

«Kommst du in die Bibliothek?», fragt die Stimme am anderen Ende des Telefons. Die Stimme ist freundlich, klar und fein melodiös und gehört zu Kerstin Paul, Mitarbeiterin in der Bibliothek. Wir setzen uns an einen der runden, weissen Tische umringt von zig Büchern jüdischer Autoren. Bücher die Bände sprechen über die Geschichte des Judentums, fesselnde Romane, unglaubliche Biografien, witzige Kinderbücher oder wissenschaftliche Literatur. Für jeden findet sich etwas. «Wir haben eine schöne Stammleserschaft, von der – würde ich behaupten – sicher die Hälfte ICZ Mitglieder sind. Das schöne ist ja, seit wir im NEBIS-Verbund sind, kommen auch immer mehr interessierte Leser von aussen. Das freut uns, denn wir sind ja eine öffentliche Bibliothek». Im Zeitalter des Internets und der Digitalisierung wird immer wieder darüber diskutiert – und auch prognostiziert – dass Bücher und Zeitungen die grossen Verlierer sind. Online kann geschriebenes schneller «konsumiert» und verbreitet werden. Dass aber Bücher Begegnungen schaffen, sie man mit fast allen Sinnen erleben kann, davon kann das Internet nur träumen.

 

Seit 14 Jahren arbeitet Kerstin Paul in der ICZ und hat schon stapelweise Bücher lesend verschlungen, «pro Woche lese ich bestimmt ein Buch. Das heisst, 52 Bücher pro Jahr mal 14 … das sind mindestens 728 Bücher seit ich hier bin», lächelt sie bescheiden. Dass die gebürtige Deutsche hier in Zürich in der Israelitischen Cultusgemeinde gelandet ist, findet seinen Ursprung in ihrer Jugend. Während der Schulzeit hat sie sich privat intensiv mit der deutschen Geschichte während des Nationalsozialismus auseinandergesetzt und hat viele Berichte von Überlebenden des Holocaust gelesen. «Ich merkte, dass es damals ein schwieriges Thema war und viele wussten nicht, wie sie auf dieses Thema reagieren sollten. Ich wollte nicht ein Teil dieser Befangenheit sein. Darum war es mir ein Anliegen, so aufgeklärt wie nur möglich sein zu können. Und so kam auch Schritt für Schritt die jüdische Kultur hinzu und dann das Studium im Bereich Jüdische Studien in Heidelberg». Kerstins Motivation war fast schon ein selbstgestellter Auftrag: Eine Brücke sein, verbinden und vermitteln wie vielfältig das Judentum ist. Besonders den Menschen, die wenig oder gar nichts darüber wissen. «Viele haben nur ein bestimmtes Bild von den Juden und sehen – wenn ich das so sagen darf – nur die streng orthodoxen Juden, die nach aussen hin sichtbar sind. Aber dass da ganz viele Juden sind, denen man es nicht ansieht, das erkennen die dann nicht. Ich will schlicht und einfach eine Normalität vermitteln und zeigen, dass wir alle gleich sind», begründet sie mit ihrer Stimme, der man für Stunden zuhören könnte.

 

Nach ihrem Studium in Heidelberg ging die zukünftige Bibliothekarin nach London, um Bibliothekswesen zu studieren. «Ich hätte in London bleiben können, aber für mich war diese Stadt zu gross. Und ich bin kein Inselmensch (lacht), mich zog es einfach zurück aufs Festland. Ich weitete meine Suche auf den gesamten deutschsprachigen Raum aus, da es nicht viele offene Positionen gab. Zur ICZ bin ich lediglich über einen Zufall gekommen», fügt sie schmunzelnd hinzu. Bei der Zentralbibliothek hat sie sich im Fachbereich Judaistik beworben und wurde geradewegs an Yvonne Domhardt verwiesen, die damals die ICZ Bibliothek leitete.

 

Wie schaut eigentlich ein gewöhnlicher Tag bei Kerstin in der Bibliothek aus? «Viele Anfragen kommen unterdessen über E-Mail hinein, Bestellungen werden mit der Buchhändlerin in Thalwil abgewickelt, neue Bücher müssen dann eingebunden und katalogisiert werden und ganz viel kleine Sachen, die dann eben anfallen. Was ich immer schön finde, sind Beratungen. Hier kann ich dann richtig eintauchen und mit den Menschen diskutieren. Und einmal im Monat lese ich vier Kindergartengruppen vor. Du siehst, die Bibliothek ist ein Ort wo gelebt wird!» Natürlich würde sich Kerstin schon auch wünschen, dass noch mehr Mitglieder der ICZ die Bibliothek nutzen würden und denkt bereits darüber nach, mal eine Umfrage zu starten. «Ich möchte schon gerne wissen, was wir wie verbessern könnten, damit die Mitglieder mehr zu uns kommen. Denn wir sind ja auch eine Bibliothek der Gemeinde. Man kann einfach vorbeikommen und in den Büchern stöbern, sie durchblättern und in eine andere Welt eintauchen.»

 

Wenn man Kerstin Paul zuhört, breitet sich schnell eine angenehme Ruhe aus. Sie ist eine bibliophile Connaisseurin und kann mit einer Leichtigkeit zum Lesen inspirieren. Dass aber nicht nur die Bücher eine ihrer Leidenschaften ist, sondern auch der Gesang wissen noch nicht viele. «Ich praktiziere den Naturjodel und treffe mich regelmässig in einem Frauenchor und jodle Lieder, in denen keine Worte, sondern nur Töne vorkommen. Das ist etwas unglaublich Kraftvolles und so Ursprüngliches», strahlt Kerstin voller Begeisterung.

 

«Menschen können zu ganz Unterschiedlichem berufen sein, aber alle Menschen sind berufen, Mensch zu sein.» – Jehuda Bacon (israelischer Künstler, geb. 1929), fügt die ICZ Bibliothekarin am Schluss des Gesprächs hinzu und bringt es auf den Punkt, dass wir mit all den Unterschieden am Ende doch gleich sind.

 

→ Zur Webseite der ICZ Bibliothek

 

Interview: Teresa Schäppi